Die Burgkapelle
Die Burgkapelle zur Seligsten Jungfrau Maria war ursprünglich dem Hl. Nikolaus geweiht und befindet sich an der Nordseite der Vorburg. Die Erstnennung erfolgte im Rahmen einer Seelgerätstiftung in Form eines Gutes am Gaisruck zu Reichenstein durch Anna, Tochter von Hartnit von Liechtenstein, an besagte Kapelle und den hier ansässigen Kaplan Leonhard. 1570 ersuchte Christoph Haym den Pfarrer von Gutau um die Nennung eines Organisten für die Kapelle. Die nächste ausdrückliche Nennung erfolgt 1614, als Bischof Johannes von Passau einen neuen Altar weihte und dazu einen eigenen Ablass von 40 Tagen für alle Besucher sowie von sieben Jahren für den Tag des Hl. Nikolaus erließ. 1757 wurde die Innenausstattung der Kapelle grundlegend erneuert: So erhielt die Schlosskapelle den heute noch erhaltenen Altar, einen Marmorfußboden und verschiedenes Messgerät. Im Zuge der josefinischen Pfarrregulierung wurde Reichenstein am 6.3.1784 zur Pfarre erhoben und der bisherige Schlosskaplan Franz Xaver Hanpf zum ersten Pfarrer bestimmt. Entgegen ersten Plänen zur Errichtung einer Pfarrkirche blieb aber die Schlosskapelle der bauliche Mittelpunkt der jungen Pfarrgemeinde. Von 1786 ist eine Kirchensitzordnung überliefert.
Ab dem späten 19. Jahrhundert fanden wiederholt Erhaltungsmaßnahmen an der Kapelle statt, so wurde der Bau 1871 mit Holzschindeln neu gedeckt; 1879 erfolgte gemäß einer bis 1993 an der Kapellenfassade erhaltenen Jahreszahl eine weitere Sanierung.
1884 wurde die Pfarre Reichenstein an Pregarten angeschlossen, im selben Jahr wurde das -Kapellendach erneuert. 1907 wurde im Auftrag der k. k. Zentralkommission für Kunst und historische Denkmale der äußere Kapellensockel renoviert. Außerdem wurden die mittel-alterlichen Glasfenster bis 1910 in Wien restauriert. 1954 erhielt die Kapelle zwei neue Glocken, 1958 wurden vom Greisinghof weitere Kirchenbänke erworben. Eine neuerliche und umfassende Restaurierung des Sakralbaus wurde 1959/60 unternommen. Neben der Neuverputzung wurden auch die Statuen renoviert und neu aufgestellt. Die Arbeiten wurden 1961 mit der Erneuerung der Emporenstiege abgeschlossen. Nach kleineren Putzausbesserungen 1976 bildet die umfassende Renovierung des Kapelleninneren 2012/13 den vorläufigen Schlusspunkt.
Baugeschichtlich reicht die Kapelle bis in das frühe 14. Jahrhundert zurück, als die Burg im gemeinsamen Besitz der Reichensteiner und Kapeller war. Im Zuge großer Aus- und Umbaumaßnahmen wurde das Vorgelände der Burg in eine Vorburg mit einbezogen, die wohl von Beginn an zumindest teilweise an beiden Längsseiten mit Gebäudetrakten eingerahmt war. Aus diesen sprang an der Nordostseite das rechteckige und einräumige Kapellengebäude vor, womit es eine Betonung gegenüber den benachbarten Bauten erfuhr. Auch die schon von Beginn an turmartige Gestaltung dürfte zu dieser Wirkung beigetragen haben. Von der ursprünglichen baulichen Ausstattung der Kapelle ist noch bemerkenswert viel erhalten geblieben: Dazu zählt in erster Linie das zweijochige Rippengewölbe mit einem klassischen Kreuzrippengewölbe im Südwesten und einem in den Rechteckgrundriss eingeschriebenen Fünfachtelschluss im Nordosten mit steil ausgebildeten Gewölbekappen. Während der Schlussstein des Südwestjoches Blattwerkdekor aufweist, zeigt das Nordostjoch einen Bischof mit gotischer Mitra und segnenden Händen, der wohl mit dem ehemaligen Patron der Kapelle, dem Hl. Nikolaus, zu identifizieren ist. Die heute hoch gelegenen Sitznischen (Sedilien) und die ebenso hoch liegenden anderen Wandnischen zeigen an, dass das ursprüngliche Niveau deutlich höher lag. Dies konnte durch die Freilegung der ursprünglichen Balkenlöcher im Zuge der Sanierungen 2012 bestätigt werden. Auf diese Hochgeschoßlösung nimmt auch die ursprüngliche Befensterung Bezug, die an der Nordostseite noch weitgehend original erhalten ist: Ein großes Lanzettfenster wird von zwei kleineren Lanzettfenstern flankiert. Im aus Besuchersicht rechten Fenster befindet sich ein zeitgenössisches, bemerkenswertes Glasfenster mit einem Heiligen in purpurfarbenem Mantel, blauem Umhang einem Herzogshut-ähnlichem Diakonshut, Schwert und Palmwedel, der Dank der teilweise erhaltenen Umschrift „Hl. Vinzenz, bitte für uns“ als Hl. Vinzenz von Saragossa identifiziert werden kann .
Ein darunter befindliches Blütenornament dürfte von einem anderen Fenster übertragen worden sein. Auch das zweite Seitenfenster besaß bis in das frühe 20. Jahrhundert ein Glasfenster, das in Privatbesitz gelangte. Eine weitere Befensterung zeichnet sich im Mauerwerk der Nordwestmauer ab und wurde durch den späteren Anbau des „Waldaiststöckls“ obsolet. Der Zugang erfolgte über ein ehemaliges Portal an der Südostmauer, woraus auf eine zeitgleiche Bebauung zwischen Kapelle und Hochburg geschlossen werden kann. Ob das darunter gelegene Geschoss auch zugänglich war, entzieht sich unserer heutigen Kenntnis; jedenfalls gab es auch über der Kapelle einen weiteren Raum, wodurch dieser Bau seinen turmartigen Charakter erhielt.
Kunstgeschichtlich fügt sich die Burgkapelle von Reichenstein in eine Reihe von vergleichbaren Kapellenbauten des frühen 14. Jahrhunderts, wobei die Gewölbelösung mit der Ostkapelle der Kremser Gozzoburg bereits einen Vergleich aus dem dritten Drittel des 13. Jahrhunderts besitzt. Zu den am besten vergleichbaren Sakralbauten zählen die Ursulakapelle im Passauerhof von Krems (Anfang 14. Jahrhundert), die Göttweigerhofkapelle in Krems-Stein (um 1310/20) und die Schlosskapelle von Ulmerfeld (um 1318/21), sodass auf Reichenstein von einer Errichtungszeit um 1320 ausgegangen werden kann. Möglicherweise stammen Reste eines im Ruinenschutt aufgefundenen Schmuckfußbodens aus mehrfarbigen keramischen Mosaiksteinen ebenfalls aus der Kapelle. Vergleichsfunde machen wahrscheinlich, dass dieser im Umfeld eines Zisterzienserklosters hergestellt wurde. Als nächstgelegene Zisterze käme Baumgartenberg im Machland, Bez. Perg, in Frage.
Die nächsten Umbaumaßnahmen erfolgten im Zuge der Ausbauten von Burg Reichenstein zum Schloss unter Christoph Haym und seinem Sohn Hans. Die Kapelle wurde durch ein weiteres Geschoß mit profaner Nutzung aufgestockt und dieses durch den ebenfalls erhöhten östlichen Zwischentrakt mit der Kernanlage verbunden. Gleichzeitig wurde die Decke zwischen dem ehemaligen Erd- und Obergeschoß entfernt und der Fußboden um etwa einen Meter abgesenkt, wodurch der heute noch beeindruckend hohe Kapellenraum entstand. An der Westseite entstand eine neu errichtete zweigeschossige Empore nach reformatorischen Vorbildern, während für das „gewöhnliche Kirchenvolk“ ein neuer, ebenerdiger Eingang in der Westmauer durchgebrochen wurde. Durch die auf der ehemaligen Sgraffito-Fassade überlieferte Jahreszahl 1569 ist die Bautätigkeit unter dem 1571 ermordeten Christoph Haym hinreichend gestützt. Der noch heute in der Kirche erhaltene Epitaph, der zu den bedeutendsten Werken der Steinmetzkunst der Renaissance in Oberösterreich gerechnet wird, entstand hingegen wohl erst unter seinem Sohn: Auf einem hohen mehrgliedrigen Aufbau aus geschecktem Marmor befindet sich mittig der reich gerüstete Christoph Haym in einem Säulenbaldachin zwischen zwei Reliefobelisken.
Noch im frühen 17. Jahrhundert erhielt die Kapelle eine neue, zeitgemäße Fassadierung mit gemalten Eckquadern und horizontalen Bänderungen zwischen den Geschoßen. Auch die Reste einer Sonnenuhr stammen aus dieser Zeit. Wie bereits oben erwähnt, erhielt die Kapelle um 1757 eine neue Innenausstattung, zu der auch der barocke Altar mit Stuckmarmor und einem Altarbild mit der Gottesmutter Maria, flankiert von Statuen der Hll. Elisabeth und Anna, gehört. Auf dem Altaraufsatz befindet sich eine von zwei Putti umrahmte Darstellung eines Bischofs. Inwieweit die um 1680/90 zeitlich einzuordnende Figur eines Hl. Rochus als Pilger zu einer früheren Ausstattung der Schlosskapelle gehört oder hierher übertragen wurde, ist nicht überliefert. Gleiches gilt für einen um 1700 zu datierenden Hl. Sebastian; beide können im Kontext der großen Pestepidemie von 1683 erworben worden sein. Wohl in Folge der Pfarr-erhebung 1784 könnte die heute noch erhaltene figürliche Ausstattung im Stil des Spätbarock angeschafft worden sein: Dazu zählen neben dem Tabernakel ein Hl. Josef mit dem Jesuskind und ein Hl. Johannes Nepomuk. Auch die Erneuerung der Emporen mittels einer spätbarocken Brüstung, die auf der ersten Ebene bemalten und mit der Jahreszahl 1805 datierten Holz-tafeln mit Darstellungen der Hl. Cäcilia mit Orgel, umrahmt von Musikinstrumenten wie Geige, Bratsche, Oboe, Klarinette und Schwegelpfeife, gehört in diesen Kontext und zeigt wohl die Situierung der Chormusik an. Darüber hinaus wurde das Fußbodenniveau um etwa einen Meter auf das heutige Niveau angehoben.
In dieser Form ist die Kapelle bis heute erhalten geblieben. Sie dient heute noch als Filialkirche für Gottesdienste der Menschen aus und um Reichenstein und erfreut sich darüber hinaus auch steigender Beliebtheit als Ort kirchlicher Trauungen. Somit bildet sie bis heute ein Schmuckstück der Burg, aber auch des gesamten Waldaisttales.
Thomas Kühtreiber und Kurt Lettner